Intersektional und identitätskritisch – Queerfeminismus und die Kritik an der Frauenbewegung
Im Folgenden werden zentrale Inhalte der Schwarzen
Große Risse – Die innerfeministische Kritik am weißen Vertretungsanspruch
„Auch in der Frauenbewegung wurde Deutsch-Deutsches diskutiert und gefeiert, als wäre Deutschland ausschließlich weiß und das Zentrum der Welt.“
Schwarze Aktivist*innen konfrontierten auch in Deutschland in den 1980er Jahren die Frauenbewegung mit deren aus ihrer Sicht zu weißen, universalistischen und eurozentrischen Weltsicht und entfachten damit eine Debatte um mehr Diversität und Identitätskritik im Feminismus. Anstoß gab vor allem die afroamerikanische, lesbische Feministin und Lyrikerin Audre Lorde, die bei einem Deutschlandaufenthalt in den 1980er Jahren weiße Feminist*innen fragte, „wo denn die Schwarzen Menschen wären.“
Jüd*innen, Women* of Colour, Migrant:innen, Schwarze Aktivist*innen und andere, auch durch den Feminismus marginalisierte Gruppen beanspruchten für sich „Selbstbestimmung: de(n) Entschluss, uns selbst zu definieren, zu benennen und für uns selbst zu sprechen, statt uns von anderen definieren und andere für uns sprechen zu lassen.“
In der Anthologie Farbe bekennen machten 1986 Schwarze Frauen um die afrodeutsche Aktivistin und Lyrikerin May Ayim, Schwarze deutsche Geschichte, deutsche Kolonialgeschichte und Alltagsrassismus in Deutschland sichtbar. Erstmals gelangten Lebensgeschichten von Schwarzen Frauen* an die Öffentlichkeit.
„…
ich trage meinen traum
hinter
erhobener faust
in pfefferfarben
und fange ganz klein an
fange endlich an
mit meiner schwester
und meiner freundin an der hand mit
meinen brüdern und
wenn es sein soll
auch allein
– damit es endlich anders werden muß!
Ich habe einen traum
da kommen menschen nicht mehr schreiend
zur Welt
und eine vision
da lieg ich mit friedlichen augen
und einem loch im kopf
…“10
Die unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen, die Frauen* weltweit vor dem Hintergrund verschiedener Kulturen und Gesellschaftsstrukturen machten, wurden universalistischen, feministischen Theorien entgegengesetzt. So sei das Patriarchat, verstanden als Vorherrschaft aller Männer* über alle Frauen*, zu pauschal gedacht worden und blende die spezifische Qualität aus, die das Geschlechterverhältnis beispielsweise durch den Einfluss rassistischer Diskriminierung erhält. Weiße Frauen besäßen demnach aufgrund ihrer durchschnittlich besseren ökonomischen Stellung und eines rassistischen Rechtssystems durchaus Macht über Schwarze Männer*.
Die Schwarze Frauenbewegung stellte die gegenseitige Durchdringung von Diskriminierungskategorien dar, die zu kaum vergleichbaren Unterdrückungserfahrungen führen würden. So habe der Sexismus gegenüber Schwarzen Frauen* kaum etwas mit dem Sexismus gegen weiße Frauen* gemein.
Lann Hornscheidt, einens der prominentesten Queertheoretikens
Dieser intersektionale Ansatz gab in den 1990er Jahren die Impulse für ein Umdenken in der Frauenbewegung auch in Deutschland.

Mensch statt Geschlecht – dekonstruktivistische Gesellschaftskritik
„Geschlecht ist nicht etwas, das wir haben, schon gar nicht etwas, das wir sind. Geschlecht ist etwas, das wir tun."
„Schwarze Feministinnen gehören zu den ersten, die in ihrer Rassismusanalyse die Probleme einer eindimensionalen Identitätspolitik herausgestellt haben."
Die Frauenbewegung habe mit ihrer Suche nach einer gemeinsamen Identität Frau die Geschlechterkategorien nicht infrage gestellt und damit die Geschlechterbinarität im Sinne der patriarchalen Gesellschaftsordnung reproduziert und zementiert.
Indem die Frauenbewegung im Sinne der sex-und-gender-Logik von der Existenz von mehr oder weniger homogenen Identitäten Frau und Mann ausgehe, trage auch sie zur Etablierung der Heterosexualität als Norm bei. Die Macht der Geschlechterbinarität initiiere demnach auch im sexuellen Begehren das Bedürfnis nach Gegensätzlichkeit. Alle abweichenden sexuellen Orientierungen inszeniere dieses Denksystem als abnorm.
Stattdessen gehen dekonstruktivistische Gesellschaftsanalysen davon aus, dass Geschlecht nichts ist, was den Individuen durch einen starren Sozialisationsprozess oder gar Biologie eingeschrieben sei, sondern identifizieren es als „Effekt interaktiver Alltagshandlungen“, sozialer Traditionen und kultureller Normen.
Es werden nun weniger die sozio-ökonomischen Bedingungen der Zweigeschlechtlichkeit analysiert, wie es in anderen feministischen Strömungen der Fall war und ist. Vielmehr werden ihre alltäglichen, intersubjektiven und sprachlichen Herstellungsprozesse untersucht.
Die Funktion von Sprache spielt hier eine zentrale Rolle. Durch Sprachhandeln, so eine der einflussreichsten Dekonstruktivist*innen Judith Butler, würden in Akten zwanghafter Wiederholungen normative Vorgaben wie das binäre Geschlechterverhältnis erst erzeugt.
Laut der deutschen Soziologin Sabine Hark ist es Aufgabe feministischer Kritik zu analysieren, „wessen und welches (geschlechtliche und sexuelle) Sein und Sprechen ermöglicht und wessen und welches Sein und Sprechen verunmöglicht wird…“
Die Überzeugung des Dekonstruktivismus, dass Geschlecht konstruiert sei, führt jedoch nicht zu der Annahme, dass das hegemoniale Geschlechterkonzept ohne weiteres zu dekonstruieren wäre. Diese Theorien gehen vielmehr davon aus, dass es sich bei der Zweigeschlechtlichkeit um eine sehr reale Fiktion
Zerschlagung starrer Identitätskonzepte, der Herrschaftsverhältnisse und der Bedeutung von Geschlecht – so lautet die dekonstruktivistische Utopie.

„Ich will Menschen mögen, sie interessant finden, mich vielleicht in sie verlieben, ohne mich dabei an den Kategorien Mann oder Frau orientieren zu müssen.“
Die Sichtbarmachung marginalisierter Identitäten ist aber nicht allein strategischer Natur. Zuallererst geht es der queerfeministischen Bewegung, deren theoretische Grundlage der Dekonstruktivismus ist, um ein Ende der Diskriminierung und um Gleichberechtigung für Menschen und Personengruppen, die mit ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung der heterosexuellen Normierung nicht entsprechen und ausgegrenzt werden. Dem intersektionalen Gedanken verpflichtet, geht es dem Queerfeminismus auch um die Ermächtigung aller, aufgrund von Hautfarbe, Religion, Ethnizität oder Klasse marginalisierten Personen. Möglichst viele Diskriminierungsformen und ihre Verwobenheit sollen Beachtung finden.
Auch hier kommt Sprache als Machtinstrument große Bedeutung zu, indem ganz bewusst für eine Benennung von verschiedenen Identitäten und sexuellen Orientierungen gestritten wird. Hinter dieser queerfeministischen Sprachpolitik steht die Überzeugung, dass sprachliche Praxen Gesellschaft mit konstituieren aber auch verändern können. Die Bezeichnung FLINTA*
Der zentrale Begriff der Differenz meint in diesem Kontext zweierlei: Zum einen die Ungleichheit durch ein- und ausgrenzende Normierungen und strukturelle Asymmetrien und zum anderen eine zu respektierende Verschiedenheit von Individuen
Um derlei ausgrenzende Strukturen zu vermeiden, wie man sie der Frauenbewegung vorwarf, sollte ein Zusammenschluss, der eine vermeintliche Homogenität behauptet, vermieden und stärker auf diverse Bündnispolitik gesetzt werden.
Zentrales Anliegen des Queerfeminismus ist es, aufzuzeigen, dass Identitäten stets fluide sind, ineinander übergehen und individuell neu entworfen werden können.
Rückblickend auf Jahrzehnte queerer Kämpfe werden jedoch auch innerhalb der Bewegung Kritiken laut. Unter der Bedingung gesellschaftlicher Anpassung verhelfe der Kampf um Anerkennung einigen, bisher marginalisierten Gruppen zu gesellschaftlicher Akzeptanz und damit verbundenen Privilegien, wie beispielsweise weißen, schwulen Männern* die anderen, weiterhin ausgegrenzten Gruppen, zum Beispiel migrantischen, lesbischen Frauen*, verwehrt blieben. Dann ist von einer Homonormativität die Rede, die ihrerseits keinen gesellschaftlichen Raum für alldiejenigen vorsieht, die nicht in dieses Konzept passen.
Verfasst von
Sabrina Zachanassian
studierte Erziehungswissenschaften und Gender Studies und ist langjährige Projektmitarbeiterin in der Feministischen Bibliothek MONAliesA in Leipzig. Ihre Forschungsthemen umfassen unter anderem die Funktionsweise des Patriarchats sowie die Entstehung von Geschlechtsidentitäten.
In anderer Fassung am 18. Juli 2022 als Sabrina Zachanassian (2022): Intersektional und identitätskritisch – Queerfeminismus und die Kritik an der Frauenbewegung, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv erschienen: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/intersektional-und-identitaetskritisch-queerfeminismus-und-die-kritik-der-frauenbewegung
- Zur Erläuterung der Großschreibung des Adjektivs schwarz, siehe: Kelly, Natasha A.: Afrokultur „Der Raum zwischen gestern und morgen“ Münster 2016, S. 7.↑
- Ayim, May: Das Jahr 1990: Heimat und Einheit aus afrodeutscher Perspektive, in: Piesche, Peggy (Hg.): Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, Berlin 2012, S. 53 – 68, hier S. 59.↑
- Die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland als komplexes Zusammenspiel un/gleichzeitiger aktivistischer Interventionen. Ein Gespräch zwischen vier Aktivistinnen unterschiedlicher Bewegungswellen., in: Piesche: Euer Schweigen schützt euch nicht, S. 17-40, hier S. 24.↑
- Ebd.↑
- Vgl. ebd., hier S. 17 f. und 23.↑
- Eggers, Maisha M.: Transformationspotentiale, kreative Macht und Auseinandersetzungen mit einer kritischen Differenzperspektive. Schwarze Lesben in Deutschland. in: Piesche: Euer Schweigen schützt euch nicht, S. 85-96, hier S. 94.↑
- Lorde, Audre: Sprechen und Handeln. Die Verwandlung von Schweigen in Sprache und Aktion, in: Piesche: Euer Schweigen schützt euch nicht, S. 157 – 163, hier S. 162.↑
- Vgl.: Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar (Hg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren in der Geschichte, Berlin 1986.↑
- Piesche, Peggy: Die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, in: Dies.: Euer Schweigen schützt euch nicht, hier S. 26.↑
- Ayim, May: Auszug aus dem Gedicht: die zeit danach, in: Dies.: blues in schwarz weiss, Berlin 1995, S. 54.↑
- Joseph, Gloria I.: Das disharmonische Dreieck: Marxismus, Feminismus und Rassismus, in: Dies. (Hg.): Schwarzer Feminismus. Theorien und Politik afroamerikanischer Frauen, Berlin 1993, S. 71-88, hier S. 78 f.↑
- Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. Feminist Theory an Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum, Chicago 1989, S. 139-167, hier S. 149 f.↑
- Die Endung –ens verwendet Hornscheidt als genderneutrale Selbstbezeichnung. Vgl.: Hornscheidt, Lann: https://www.lannhornscheidt.com/, Zugriff am 10.09.2021.↑
- Hornscheidt, Lann: entkomplexisierung von diskriminierungsstrukturen durch intersektionalität, 2014, Zugriff am 10.09.2021 unter www.portal-intersektionalität.de.↑
- Mühlen Achs, Gitta: Geschlecht bewußt gemacht. Körpersprachliche Inszenierungen. Ein Bilder- und Arbeitsbuch, München 1998, S. 21.↑
- Barker, Meg-John et.al.: Queer. Eine illustrierte Geschichte, Münster 2018, S. 131.↑
- Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 19 f. und 22 oder: Voß, Heinz-Jürgen: Konstruktivismus und Dekonstruktivismus – und deren Bedeutung für emanzipative Biologie-Kritik aus Geschlechterperspektive, in: Nagelschmidt, Ilse et. al.(Hg.).: Interdisziplinäres Kolloquium zur Geschlechterforschung. Die Beiträge, Leipzig 2010, S. 61-74, hier S. 63.↑
- Vgl. z.B.: O.A.: The future is diverse! In: Radikarla*. Uni Göttingen 2019, Femzine 8, S. 22-26, hier S. 22.↑
- Vgl. Butler: Unbehagen, S. 38 und vgl. Groß, Melanie et. al.: Queer-/Feministische Theorien und politisches Handeln. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.): Queer-/Feministische Kritik neoliberaler Verhältnisse, Münster 2007, S. 7-14, hier S. 7.↑
- Becker-Schmidt, Regina: Konstruktion und Struktur: Zentrale Kategorien in der Analyse des Zusammenhangs von Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, in: Graf, Julia et. al. (Hg.): Geschlecht zwischen Struktur und Subjekt. Theorie, Praxis, Perspektiven, Leverkusen 2013, S. 19-42, hier S. 28.↑
- O.A: Ein persönlicher Zugang zu Geschlecht, in: Direct Action… kreativer Widerstand & herrschaftsfreie Visionen, Geschlechterverhältnisse und kreativer Widerstand, Kempten 2006, S. 2-3, hier S. 3.↑
- Vgl. z.B.: Vgl. Gildemeister, Regine et. al.: Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung, in: Knapp, Gudrun-A. et. al. (Hg.): Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, S. 201 – 254, hier S. 246 f.↑
- Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 56 f. und S. 194 f. und: Vgl.: Butler: Unbehagen, S. 70 f. und S. 79 f.↑
- Vgl.: Butler: Körper von Gewicht, S. 26 f.↑
- Ebd. S. 16↑
- Hark, Sabine. “Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute”, in: Feministische Studien, 27. Jg., 2009, Nr. 1, S. 22-35, hier S. 28.↑
- Ebd. 26 f.↑
- Lenz, Ilse, 20.04.2018: Von Sorgearbeit bis #MeToo. Aktuelle Feministische Debatten in Deutschland, Zugriff am 13.08.2021 unter https://www.bpb.de/apuz/267940/von-der-sorgearbeit-bis-metoo-aktuelle-feministische-themen-und-debatten-in-deutschland.↑
- Vgl. Voß: Konstruktivismus und Dekonstruktivismus, hier S. 66.↑
- Direct Action, S. 2-3.↑
- Ebd. S. 3.↑
- Chlebos, Laura et. al., 2018: Queerfeminismus – Ideen, Positionen und Aktionen, in: Onlinejournal kultur & geschlecht, Nr. 21 2018, S. 3, 13, Zugriff am 16.08.2021 unter https://kulturundgeschlecht.blogs.ruhr-uni-bochum.de/wp-content/uploads/2018/06/Chlebos_Schmidt_Ziemes_Queerfeminismus.pdf und o.A.: Warum Geschlechterforschung? Ein Kommentar, in: Radikarla*, Uni Göttingen 2019, Femzine 8, S.5-6.↑
- FLINTA* steht für Frauen, Lesben, Inter, Nicht-binär, Trans und Agender*↑
- Groß, Melanie et. al.: Queer-/Feministische Theorien und politisches Handeln. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.): Queer-/Feministische Kritik neoliberaler Verhältnisse, Münster 2007, S. 7-14, hier S. 9f.↑
- Martin, Julia: Queere Feminität. Auch in queer_feministischen Szenen wird Weiblichkeit abgewertet. In: An.schläge. Das –feministische Magazin. 2016,2. S. 23.↑
- Lorde, Audre: Sister Outsider. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern schweigen“, München 2021, S. 142 und vgl. Warum Geschlechterforschung?, hier S. 6.↑
- Vgl. The future is diverse!, hier S. 22 und Butler: Unbehagen, S. 34 f.↑
- Vgl: The future is diverse!, hier S. 26.↑
- Chlebos et.al.: Queerfeminismus, hier S. 9.↑
- Kleiner, Bettina, 2016: Heteronormativität, in: Gender Glossar, Zugriff am: 16.08.2021 unter https://gender-glossar.de/h/item/55-heteronormativitaet.↑