„Ein Angriff auf eine* ist ein Angriff auf uns alle!“ – Aktuelle feministische Kämpfe gegen den sexistischen Normalzustand
Die Anlässe reißen nicht ab – sexuelle Gewalt, Frauen*morde oder sogenannte Lebensschützer versuchen Frauen* und als weiblich gelesene Personen noch immer in die Knie zu zwingen. Feministischer Aktivismus ist so relevant wie eh und je. Im Folgenden werden exemplarisch Einblicke gegeben in aktuelle Protestbewegungen in Leipzig und Sachsen. Was sind die Themen und wie geht feministischer Protest heute?
„Kein Gott, kein Staat, kein Gebärautomat!“
Der Kampf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist so alt wie die Frauenbewegung selbst. Legal sind sie deshalb in Deutschland auch nach 150 Widerstandsjahren noch lange nicht. Was in der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren einen Schwerpunkt feministischer Arbeit darstellte, ist durch das Erstarken christlicher Fundamentalist*innen und die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in einigen Ländern brandaktuell – der Kampf um körperliche und reproduktive Selbstbestimmung.
Besonders das christliche und extrem konservative Milieu im sächsischen Erzgebirge bietet Abtreibungsgenger*innen aus Deutschland alljährlich das passende Ambiente, um in sogenannten Schweigemärschen um vermeintlich ungeborenes Leben zu trauern. Seit 2007 treffen sich in Annaberg-Buchholz misogyne, nationalistische, homo- und transfeindliche Kräfte, die auch nicht den Vergleich von Schwangerschaftsabbrüchen mit dem Holocaust scheuen.V
Seit 2014 formiert sich Widerstand gegen diese Schweigemärsche. Pro Choice, der internationale Name der Widerstandsbewegung, steht dabei für den Kampf um die freie Entscheidungsgewalt, ein Kind austragen zu wollen oder nicht.
Pro Choice Sachsen organisiert nun in jedem Jahr unter dem Motto Leben schützen! Abtreibung legalisieren! die Gegenproteste mit bis zu 800 Teilnehmer*innen. Wie andernorts fordern die Aktivist*innen die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, eine flächendeckende Sexualaufklärung und den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln. Auch „kämpfen [sie] für eine Gesellschaft, in der es keine Rolle spielt, ob ein Kind mit oder ohne Behinderung auf die Welt kommt.“
Dem schweigenden Trauerzug der christlichen Fundamentalist*innen setzt das Bündnis in Annaberg auch gern mal ein lautes und schrilles Straßenfest entgegen mit Hüpfburg, Konzert und Konfettikanone.
Den Rest des Jahres hängt zum Beispiel Pro Choice Leipzig Kleiderbügel mit ihren Forderungen im öffentlichen Raum auf. Der Kleiderbügel ist ein Utensil mit dem ungewollt Schwangere versuchen, unter lebensbedrohlichen Umständen selbst einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen und er verweist darauf, dass Abtreibungen durch ein Verbot nicht weniger, sondern nur gefährlicher werden.
Pro Choice Sachsen klärt über die Versorgungslage für Abtreibungen auf, die sich besonders im ländlichen Bereich als sehr prekär darstellt und berichtet in Podcasts über Abtreibungsregelungen in anderen Ländern.
Dem Schweigen der Fundamentalist*innen setzt die Initiative Abtreibungsgeschichten seit 2020 eindrucksvolle Erfahrungsberichte von Menschen entgegen, die abgetrieben haben.
Kritik an der Pro Choice-Bewegung kommt von der Sexualpädagogin Melody Makeda Ledwon, die diesen Aktivismus als zu weiß identifiziert. Perspektiven von queeren und Schwarzen Menschen, People of Colour und Menschen mit Behinderung würden ignoriert und patriarchale Bevölkerungspolitik auf das Abtreibungsverbot reduziert. „…neben der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen prägen auch Zwangsabtreibung, -verhütung und -sterilisation, Familientrennung und Einschränkungen bei der Familiengründung die Realitäten dieser Menschen.“
„Wir wollen leben…“ – Die Initiative #keinemehr und ihr Kampf gegen Femizide
Am 08.04.2020 wurde im Leipziger Auwald eine Frau von ihrem Expartner ermordet, weil sie eine Frau ist.
Diese Gewalttat ist kein tragischer Einzelfall, sondern Ausdruck des patriarchalen Geschlechterverhältnisses. Jeden dritten bis zweiten Tag tötet in Deutschland ein Mann eine Frau*.
Der Mord war Ausgangspunkt für die Formierung einer weiteren Protestbewegung – die Initiative #keinemehr in Leipzig, die seither gegen Femizide und männliche Gewalt kämpft. Inspiration war die südamerikanische Ni Una Menos-Bewegung – keine weitere getötete Frau*, die bereits 2015 ihren Anfang nahm und sich dort zu einer feministischen Massenbewegung mit 100.000en Protestierenden entwickelte und einen weltweiten Aktivismus initiierte.
Der Begriff Femizid beschreibt die „Tötung von Frauen und weiblich gelesenen Menschen aufgrund ihres Geschlechts."
Die Skandalisierung männlicher Gewalt ist nicht neu, sondern stellte bereits in der Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre einen Schwerpunkt dar. Eine neue Sichtbarkeit habe das Thema Gewalt an Frauen* jedoch erfahren, indem die Ni Una Menos-Bewegung die drastischste Form von patriarchaler Gewalt in den Fokus rücke und so eine gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erreiche.
In Argentinien, Mexiko und Spanien beschreibt der Begriff Femizid bereits einen eigenen Straftatbestand. In Deutschland ist immer noch verharmlosend von ‚Eifersuchtstat‘ und ‚Familiendrama‘ die Rede und werden die patriarchalen, gesellschaftlichen Ursachen ignoriert. So auch beim Mord an Myriam Z. in Leipzig. In einem Artikel der Leipziger Volkszeitung heißt es: „Für ein Drama von solcher Tragweite gibt es manchmal keine Erklärung.“
Als seien Femizide ein kulturelles und nach Deutschland importiertes Problem, ist auch gern von ‚Ehrenmord‘ die Rede, wenn der Täter einen Migrationshintergrund hat.
Die Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Frauenmorde in Leipzig seit 2011 zu dokumentieren. Entstanden sind Gedenktafeln, die an den Tatorten aufgestellt wurden. Mit 135 Bändern, die in der Stadt verteilt wurden, wurde an die 135 Opfer von Femiziden allein aus dem Jahr 2019 in Deutschland gedacht.
„Betroffen sind einige, gemeint sind wir alle!“[
2016 und 2018 wurde auf dem linken Musikfestival Monis Rache auf mindestens einem Dixiklo voyeuristische Videos ohne Wissen der gefilmten Personen aufgenommen, auf Pornoseiten veröffentlicht und zum Teil verkauft. Aufgedeckt hat diese frauen*feindlichen Gewalttaten die Journalistin Patrizia Schlosser in ihrer Dokumentation Spannervideos: Wer filmt Frauen auf Toiletten?V
Die wenigen Personen, die bereits 2019 informiert waren, entschieden nicht nur eigenmächtig, den Namen des Täters geheim zu halten, sondern auch über die Art des Umgangs mit dem Täter ohne die Betroffenen einzubeziehen. Diese Alleingänge und die massive Intransparenz führten zu einem Täterschutz gewohnt patriarchaler Manier.
Im Januar 2020 gründete sich die Gruppe Mora in Leipzig, die in einem Statement die Empörung unter den Betroffenen zu einer Kampfansage wendet: „Aus unserer Verletzung wird Wut, aus unserer Angst Solidarität.“
Bettina Wilpert identifiziert Voyeurismus als Absicherung männlicher Macht, die sich über die Abwertung des Weiblichen* herstellt – in diesem Falle das Filmen weiblich gelesener Menschen in intimen und erniedrigenden Situationen.
Wie bei den Femiziden handelt es sich also auch hier nicht ausschließlich um eine individuelle Straftat. Die Tragweite dieser Vergehen wird erst vollends bewusst, wenn man sie vor dem Hintergrund des patriarchalen Geschlechter-verhältnisses betrachtet. Der Begriff der toxischen Männlichkeit macht verstärkt die Runde. Sexuelle Gewalt sei demnach eng mit Männlichkeit verknüpft. Gefordert wird, dass linke Gruppen, in denen Männer aktiv sind, zu Antisexismus und Männlichkeitskritik arbeiten.
Mora hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „Wut zu bündeln“ und „auf die Straße zu tragen.“
Ganz konkret wurde der feministische Aktivismus im April 2021, als sich Interessierte digital zu einer Problemlösungswerkstatt trafen – Social Hackathon genannt. Entwickelt wurden Lösungsansätze zur Verhinderung sexueller Gewalt auf Festivals. Ein anderthalbstündiges YouTube-Video fasst die Maßnahmen zusammen.
Die Gruppe Mora indes arbeitet an einem Buch zur Dokumentation und Analyse dieser digitalen, sexuellen Gewalt – ein Zeugnis feministischer Erinnerungspolitik.
Alle hier vorgestellten Protestbewegungen entstanden als Reaktion auf sehr verschiedene Anlässe. Den Aktivist*innen ist jedoch bewusst, dass die Übergriffe allesamt Ausdruck eines globalen patriarchalen Frauen*hasses sind: „Ein Angriff auf eine* ist ein Angriff auf uns alle!“
Verfasst von
Sabrina Zachanassian
studierte Erziehungswissenschaften und Gender Studies und ist langjährige Projektmitarbeiterin in der Feministischen Bibliothek MONAliesA in Leipzig. Ihre Forschungsthemen umfassen unter anderem die Funktionsweise des Patriarchats sowie die Entstehung von Geschlechtsidentitäten.
In anderer Fassung am 08. Juni 2022 als Sabrina Zachanassian, (2022): „Ein Angriff auf eine* ist ein Angriff auf uns alle!“ – aktuelle feministische Kämpfe gegen den sexistischen Normalzustand, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv erschienen: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/ein-angriff-auf-eine-ist-ein-angriff-auf-uns-alle-aktuelle-feministische-kaempfe