“Ein Spiegel des sozialistischen Alltags?” Das Frauenbild in der Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur
Vierzig Jahre lang erschien die Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur sechs Mal jährlich von 1956 bis 1995 mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren und publizierte vor allem Bilder, aber auch Texte zu den Themen Mode, Kultur, Kunst und Lebensstil für Frauen jeden Alters. Auch vermeintlich weibliche Aufgaben wie Haushaltsführung, Kochen und Familienarbeit waren, so wie sie auch heute Teil von Frauenzeitschriften sind, in Form von Rezepten, Kolumnen, Leserinnenbriefen, Artikel über Prominente und Werbeanzeigen abgebildet. Eine Einlage im Mittelteil, die Schnittmuster enthielt, war in jeder Ausgabe vorhanden und das Aushängeschild der Zeitschrift. Die abgebildete Mode wurde von fachkundigen Modeschaffenden, aus denen die Redaktion der Sibylle bestand, zusammengestellt, teilweise entworfen und empfohlen.
Dank dem unverfänglichen Label „Modezeitschrift“ konnten die Kreativen der Sibylle häufig an der Zensur vorbei veröffentlichen. Verschiedene renommierte Fotograf*innen wie Arno Fischer, Ute Mahler, Roger Melis oder Günter Rössler inszenierten Models und Mode vor heimischer DDR-Kulisse und skizzierten im Lauf der Erscheinungsjahre eigene Frauenbilder
Bereits kurz nach ihrer Gründung 1956 bekam Sibylle das Attest „zu französisch“
Doch inwiefern war die Sibylle fernab von illustrierter Mode ein Spiegel des sozialistischen Alltags von Frauen in der DDR und welches Frauenbild zeichnet sie?
Die Mutti arbeitet wie ein Mann
Die Sibylle vermittelte vor allem in den 1960ern kulturelle Leitbilder der sozialistischen Frau in der DDR: mit praktischer und zurückhaltender Mode posiert sie in heimischer Umgebung und im beruflichen Umfeld, in dem „die Mutti arbeitet wie ein Mann“
Nähe zum Alltag und zur Lebenswelt der Leserin wird nicht nur in Modestrecken, in denen Models vor Plattenbau-Wohngebieten oder in der industriellen Produktion
Oft ist sie neben all diesen Verpflichtungen zusätzlich in einer lokalen Frauengruppe, beim Sport oder in einem Chor aktiv oder bildet sich weiter. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erscheint erstrebenswert und leicht machbar, wenn Frau denn nur will. Die Porträts wirken durch ihre Platzierung im Alltag der Frauen lebensnah, die Frauen erscheinen vorbildlich und unkompliziert in allen Lebensbereichen und etabliert in den meisten Berufen. Die langjährige Redakteurin Dorothea Melis beschrieb das Frauenbild in dieser Zeit als: „[…]berufstätig, gebildet, gesellschaftlich tätig und dabei auch noch Mutter – also alle Dinge unter einen Hut zu bringen. Und ich muss sagen, die meisten haben das auch noch geschafft.“
Schöne und kraftvolle Bilder illustrieren den Arbeitsalltag von einer Schäferin, einer U-Bahn-Fahrerin oder Frauen in der Produktion, die Frauen stehen scheinbar stolz und zufrieden „ihren Mann“, auch in männlich dominierten Berufsfeldern. Zur angenehmeren Gestaltung der häuslichen und familiären Reproduktionsarbeit findet die Leserin in der Sibylle Tipps und Tricks. Sibylle schaffte eine Sympathie zur Arbeiterin, die eben auch ihre Leserin ist, verfehlt aber, Herausforderungen im Leben der vorgestellten Frauen darzustellen und sich somit mit ihnen zu solidarisieren.
Die doppelte Vergesellschaftung und ihre Verhandlung
Die illustrierte Botschaft ist klar: der Staat sorgt für die Frau in Form von Erwerbsarbeit und sozialpolitischen Maßnahmen, wie dem Recht auf Kinderbetreuung in Kindertagesstätten, die Erwerbsarbeit gestaltet wiederum das Leben der Frau, und diese sorgt für ihre Familie
Dass die staatliche Fürsorge für Frauen von der Erwerbsarbeit bis zur eigenen Familie trotzdem patriarchalische Strukturen und Benachteiligung von Frauen nicht verhinderte, zeigte sich in einigen wenigen Artikeln der Sibylle: so fragte sich die spätere Vorsitzende des Demokratischen Frauenbunds Gisela Steineckert 1968 im Artikel „Chancen mit Gesetzeskraft“, wie Frauen berufliche Erfüllung trotz ihrer Mehrfachbelastungen erfahren können
1975 diskutierten Chefredakteurin Yvonne Freyer und die stellvertretende Gesundheitsministerin der DDR Anneliese Toedtmann im Artikel „Sibylle im Gespräch: Wie vereinbaren sich Beruf und Familie ?“
Die Herausforderungen von doppelter Vergesellschaftung blieben in den vierzig Erscheinungsjahren der Sibylle subtiles Dauerthema ohne als ebensolche benannt zu werden, und wurde selten durch Mode („Das trägt die Berufstätige Frau“ oder „Der weibliche Arbeitsplatz“) diskutiert.
Auch politische Partizipation von Frauen thematisierte die Sibylle selten. Im Geleitwort der Chefredakteurin, durch Hinweis auf die Schicksale bekannter politischer Frauen oder als Bemerkung bei der Vorstellung einer porträtierten Frau fand sie Erwähnung. Politische Teilhabe wurde in vergleichbaren anderen Frauenzeitschriften wie der Lernen und Handelnoder der Für dich in Form von Gruppen- und Verbandsorganisierung und Partizipation in parlamentarischer Politik propagiert. War es doch der Anspruch der DDR, Frauen zu fördern, um „die Republik zu stärken, dem Frieden und dem Sozialismus neue große Kräfte zuzuführen […]“
Von der Mutti zur Konsumentin?
Die Teilnahme von Frauen an Erwerbsarbeit hob in der DDR ab den 1970ern die ökonomische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern weitestgehend auf. Mit finanzieller Sicherheit und einer mittlerweile gewissen wirtschaftlichen Stabilität des Landes nach den Jahrzehnten des Wiederaufbaus eröffneten sich für Frauen Möglichkeiten, durch Konsum von angenehmen oder schlicht schönen Dingen wie Mode eine gewisse Individualität oder auch Lebensqualität für sich zu genießen.
1969 verkündete die Sibylle-Redaktion: „Sibylle wird weiter am Thema bleiben, damit die Frau von heute – so wie es die Entschließung des 2. Frauenkongresses der DDR fordert – ihre Freizeit sinnvoll nutzen, ihre Spannkraft und Lebensfreude durch sportliche Betätigung erhöhen und mit Charme und Geist wirkungsvoll das Leben unserer Gesellschaft beeinflussen kann“
Die Darstellung der Leitbilder änderte sich in den 1970er Jahren, es werden Akademikerinnen, Intellektuelle, Schauspielerinnen, Künstlerinnen, internationale Frauen und Politikerinnen porträtiert und nicht mehr die Erzieherin, Verkehrspolizistin oder Facharbeiterin vorgestellt. Ungewöhnlich ist dies, weil trotz staatlich verordneter Gleichstellung nur wenige Frauen in der DDR in politisch verantwortungsvollen Positionen saßen
Die Sibylle vollzog in diesem Jahrzehnt eine Wandlung von der Zeitung, die der Leserinnenschaft über sozialistische Mode unter anderem sozialistisches Verhalten vorbildhaft vermitteln wollte und die Leserin in den Mittelpunkt stellte, hin zu einem Magazin mit stärkerem Fokus auf Lifestyle, Trends und Mode. Körperpflegetipps („Schön sein, schön bleiben“), Gymnastikanleitungen für Einzelsport („Yoganastik“ ) und Diäten wurden nun zu Themen, was überrascht, ist doch eine reduzierte Ernährung kontraproduktiv für arbeitende Menschen
In den 1980ern verstärkte sich der Fokus der Sibylle auf Mode und Lifestyle. Hochglanz, Kosmetik, Mode, Jeans, Dessous und viel Kunst rückten noch mehr in den Mittelpunkt. Die Models wurden diverser, beispielsweise wurden schwarze Menschen regelmäßig abgebildet, und die Mode, die präsentiert wurde, war keinesfalls nur für den Alltag geeignet.
Die Prophetin
Die Inhalte der Sibylle entsprachen der Rolle der altgriechisch-mythologischen Figur, mit der der Name assoziiert werden kann: Prophetinnen sollen Sibyllen gewesen sein, Weissagung betrieben haben, manchmal auch in Rätseln. Weissagung erfolgte in der Zeitschrift Sibylle in Form von der Verkündung neuer Modetrends und -kollektionen. Auch in der Kunst und eigenen Ästhetik der beteiligten Fotograf*innen und der Vorhersage von Trends und gesellschaftlichen Themen war Sibylle anderen Frauenzeitschriften voraus.
Es überrascht nicht, dass der Sibylle „besonders krasse apolitische Tendenzen“
„Sibylle ist der Aufgabe, sozialistisches Bewusstsein zu bilden und zu fördern nicht gerecht geworden. […] sie führt ihre Leser nicht zu einer sozialistischen Lebensauffassung, sondern propagiert vielfach bürgerliche Anschauungen, weckt kleinbürgerliche Beschaulichkeit, vermittelt ein falsches Geschichtsbild und geht in vielen Beiträgen an den Problemen unseres gesellschaftlichen Lebens, unseres sozialistischen Aufbaus vorbei“
Beim Parteivorstand wurde 1946 eine Frauenabteilung gebildet, die 1947 in ein Frauensekretariat umgewandelt und 1952 in die neu gebildete Abteilung Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen eingegliedert wurde. 1955 erfolgte die erneute Bildung einer Abt. Frauen, die zwischenzeitlich (1956-1966) den Status einer Arbeitsgruppe hatte und bis 1989 existierte. Die Abteilung koordinierte die Frauenpolitik in allen gesellschaftlichen Bereichen bis in die Kommunen und Betriebe hinein. Sie kontrollierte die Durchführung der SED-Beschlüsse in den Frauenausschüssen, im Demokratischen Frauenbund Deutschlands und in den Frauenkommissionen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, arbeitete eng mit der Frauenkommission beim Politbüro zusammen und schuf Kontakte zu Frauenorganisationen anderer Länder.
Sibylle zeigte auch Inhalte fernab sozialistischer Norm. Körperpflege kann neben dem schnellen Urteil der Oberflächlichkeit auch die Zeit sein, die die Frau allein für sich und mit sich verbringt, in der sie den schwer erarbeiteten Lohn für sich selbst verwendet und Wohlfühlen in ihrem Körper als Kontrast zu den Belastungen von Arbeit und Alltag erleben kann. Auch der beigelegte Mittelteil mit Schnittmustern lässt neben der Notwendigkeit des eigenen Schneiderns durch Rohstoffmangel die Deutung zu, dass Mode kreativ individualisiert werden konnte, wo die staatliche Konfektion es nicht zugelassen hat. Sibylle besetzt mit dieser Individualität, weiblicher Freizeit und Ästhetik des Alltags eine Nische, die sie über so viele Jahre und trotz politischer Missbilligung füllte und die die Leserinnen dankbar annahmen. Dazu sagt Dorothea Melis: „Es ist eigentlich so ein landläufiges Vorurteil, dass es im sozialistischen Lager keine Mode gegeben hat, dass es da keine Ästhetik gab, dass es nicht schön ist, dass es da keine Kultur gab."
Verfasst von:
Ariane Lösch
studierte Soziologie, Lehramt und Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Projektmitarbeiterin in der Feministischen Bibliothek MONAliesA in Leipzig und an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Ihre Forschungsthemen sind die gesellschaftlichen Ursachen von Femiziden und Leseangebote und Chancengleichheit für Menschen mit kognitiven Behinderungen.
In anderer Fassung veröffentlicht am 11. November 2021 als: Ariane Lösch (2021): Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/sibylle-zeitschrift-fuer-mode-und-kultur